1968. Ein Jahr, das bis heute weltweit vielfältige Assoziationen und Erinnerungen provoziert: Die einen denken an die friedlich-utopische Flower-Power-Bewegung, die den Weg zu diversen Bürgerrechten ebnete und an ein bewegendes Gefühl des Aufbruchs. Andere denken an die Brutalität des Vietnamkriegs, an die rigide Sexualmoral, die Nichtaufarbeitung des Nationalsozialismus, an Kapitalismus und vor allem an tausende Studierende, die dagegen auf der Straße protestierten. In Freiburg denkt man gerne an den Moment, als die Stadtgesellschaft sich gegen die Erhöhung der Fahrpreise auflehnte. In jedem Fall aber polarisiert diese Zeit großer Umbrüche und oftmals gewalt(tät)iger Neuordnungen noch heute.

50 Jahre nach 1968 beleuchtet das Theater Freiburg über die Dauer einer gesamten Spielzeit aus unterschiedlichen künstlerischen und wissenschaftlichen Perspektiven dieses historische Moment. Welche spürbaren Auswirkungen haben die “Achtundsechziger” auf heutige Kunstformen, auf unser gesellschaftliches Selbstverständnis, unseren Wertekanon? Wie ist diese Zeit in unser kollektives Gedächtnis eingeschrieben, wie erinnern wir diese Bewegung? Und bieten die “Achtundsechziger” eine Gedankenstütze, um unsere Zukunft zu imaginieren und zu gestalten?

1968 – EIN HAPPENING //

BY PROXY // PERFORMANCE

Das junge norwegische Theaterkollektiv by Proxy gab im Herbst 2018 den Auftakt für den 68er Schwerpunkt des Theater Freiburg. Die norwegischen Künstler_innen interessierten sich dabei weniger für die spezifischen historischen und lokalen Ereignisse der Achtundsechziger, als für die kollektiven Prozesse, die nicht-hierarchischen Kommunikationsprinzipien, die Sit-ins, Teach-ins, die Happenings, die sich in dieser Zeit etablierten. Und für das gemeinsame Hinterfragen unserer gesellschaftlichen Wertesysteme, das Denken in Utopien und das revolutionäre Potential, das daraus erwächst:

In einem partizipativen Happening luden die jungen Künstler_innen das Publikum zu einer Gruppen-Zeitreise sowohl 50 Jahre in die Vergangenheit als auch 50 Jahre in die Zukunft ein. Denn heute, 50 Jahre nach 1968, stehen wir erneut an einer Schwelle und sollten mit dem Wissen von gestern über die Möglichkeiten von heute sprechen: Ist die Klimakatastrophe noch zu stoppen? Können wir Weltherrscher von nuklearer Kriegsführung ab-, den Rechtsruck und den Verlust des Glaubens an die Demokratie in Europa aufhalten? – Sind diese Entwicklungen unvermeidlich, oder ist es lediglich unvermeidlich, dass sich Dinge ändern werden? Was können wir hoffen und wovor sollten wir uns fürchten?
Von oben, aus der Ferne und in der Rückschau lassen sich die Handlungsspielräume von heute besser begreifen, so die These der jungen norwegischen Künstler_innen.

Entsprechend luden sie ihr Publikum dazu ein, sie – die Vergangenheit im Gepäck – auf einen Trip in die Zukunft zu begleiten, in den künftigen Sternenhimmel zu schauen, einen Blick in das ewige Feuer zu werfen und dadurch neue Gestaltungsmöglichkeiten zu entdecken. Mit welcher Agenda, fragten die by Proxys ihr Publikum, sind ihre Gäste aus der Zukunft zurückgekehrt?

Das Life-Art-Kollektiv by Proxy hat sich 2013 als Zusammenschluss von sechs Studierenden der Fachrichtungen Schauspiel und Szenografie an der Norwegischen Theaterakademie Fredrikstad gegründet und wurde 2015 aufgrund ihres interdisziplinären Ansatzes als erste fremdsprachige Gruppe überhaupt mit dem Preis des Körber Studios Junge Regie ausgezeichnet. Es folgten Gastspiele am Theater Oberhausen, den Münchner Kammerspielen, dem Staatstheater Braunschweig und in ganz Skandinavien. Ihre folgende Arbeit wurde vom Theater Oberhausen, den dänischen Bühnen Sort/Hvid und Teaterøen (Kopenhagen) und dem norwegischen BIT Teatergarasjen (Bergen) koproduziert. In der Spielzeit 17/18 leitete by Proxy das Teater Momentum in Odense (DK) und realisierte am Theater Freiburg das experimentelle Pop-Up-Opernfestival VOLKSOPER.

By Proxy arbeiten kollektiv und interdisziplinär, sie befassen sich mit Themenfeldern, die ihren Ursprung meist in gesellschaftspolitischen Reflektionen haben. In den vergangenen Jahren haben sie eine für sie charakteristische Handschrift entwickelt: Ausgehend sowohl von speziellen räumlichen sowie inhaltlichen Setzungen schaffen sie immersive Theaterformate, in denen die Zuschauer_innen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des Raumes und des Narratives einnehmen. So schaffen sie Möglichkeitsräume, die ihre Gäste aktiv mitgestalten, wenn nicht gar bedingen. Es sind Orte der Teilhabe und des gemeinschaftlichen Erlebens, durch die sich in ihre Arbeiten eine unmittelbare soziologische und gesellschaftspolitische Komponente einschreibt.

1968 ENTZIFFERN.

BEITRÄGE ZUM THEATER HEUTE UND VOR 50 JAHREN //
DR. ELIANE BEAUFILS & DR. PHILIPP SCHULTE //
VORTRAG TANZSPARTE

Am 23.11.2018, kurz bevor das Happening von by Proxy zum zweiten Mal stattfand, lud die Tanzsparte zu einem gemeinsam Vortrag von Dr. Eliane Beaufils (Département de Théâtre, Université de Vincennes - Paris 8) und Dr. Philipp Schulte (Hessische Theaterakademie) in die Passage 46 ein:

Revolte und Experiment, Experiment und Revolte, 1968 und heute: Die 60er Jahre zeichnen sich durch ein erneutes Erstarken künstlerisch-politischen Denkens nach dem Zweiten Weltkrieg aus, das weit über die 68er-Bewegungen und den europäischen Kontinent hinaus ragte. So erlebten einige den Pariser Mai 1968 als konterkulturelle Revolution in der Fortsetzung künstlerischer Bestrebungen, zumal zahlreiche Künstler mit der Zivilbevölkerung und den Arbeiterverbänden zu interagieren suchten. Die Revolution selbst bekam theatralische Züge und forderte das Theater heraus. Vor allem die Performance-Künstler und die Situationisten spielten im Rückblick eine ausschlaggebende Rolle in der Wahrnehmung von öffentlichen Gruppen, von Stadt und Staat, und in der Erfindung neuer Lebens- und Kunstformen.

In Anbetracht der erhöhten Komplexität heutiger Gesellschaften, die gern als multipolar oder als Multiversen beschrieben werden, mögen herkömmliche Strukturen des Zusammenlebens in multikulturellen Städten unzureichend vorkommen, während die Erfassung von Macht- und Handlungswegen vielerorts problematisch ausfällt. Angesichts dieser Schwierigkeiten greifen zurzeit zahlreiche Künstler auf Gedankengut und Bestrebungen der letzten Avantgarden zurück. Postsituationistische Arbeiten suchen auf lokaler Ebene die Wahrnehmung von Umwelt, Gesellschaftsproblemen und Politik zu ändern, bzw. als veränderbar zu gestalten. Artivisten möchten die Formen und Inhalte von Handlung bzw. von unserem Handlungsverständnis überdenken und setzen sich meist auch gezielt mit bestimmten Einrichtungen, Unternehmen oder Orten auseinander. Auf diese Bestrebungen wurde im Vortrag, insbesondere unter beispielhafter Bezugnahme auf die Stadt Frankfurt in Hinblick auf ihre Sozial- und Stadtpolitik sowie den Niederschlägen in ihrer Performanceszene eingegangen und untersucht, inwiefern sie sich mit Wegen und Gedanken der 68er Jahre konfrontieren und fortsetzen.

ICH WEISS, WAS DU ´68 GETAN HAST //
DIE METHUSALEMS

SCHAUSPIEL

Fünfzig Jahre nachdem sie – teils aktiv, teils eher beobachtend – die 68er-Bewegung miterlebt haben, beruft das Freiburger Seniorentheater-Kollektiv die methusalems ein Sonderplenum ein, um sich erneut heftige Debatten zu liefern. Sie beschwören die politischen Untoten herauf: in ihren Elternhäusern, am Wohnzimmertisch, den Klassenzimmern, den Hörsälen, in den Büros und in der Justiz. Sie reden von sexueller Befreiung und WG-Leben, Jeans statt Kleidern, Altlasten aus der NS-Zeit, Abnabelungs- und Solidarisierungsprozessen, aktiver Teilhabe, bewusster Abgrenzung, stillem Beobachten und der Entwicklungen neuer Erziehungsmethoden. Sie fordern eine Überarbeitung der Geschichtsschreibung zugunsten der feministischen Bewegungen der 68er und diskutieren und hinterfragen die Handlungsspielräume, die sich plötzlich auftaten. Wilde Zeiten, damals. – Oder heute?

Die methusalems sind ein Freiburger Schauspiel-Kollektiv, das im Jahr 2000 von dem damals noch am Theater Freiburg tätigen Schauspieler Helmut Grieser gegründet wurde. Die inzwischen 27 Mitglieder sind alle über 65 Jahre alt. Die Bühne ist für die methusalems immer ein Raum der Selbsterkundung und der Erweiterung der spielerischen Fähigkeiten von Laien, die sich professionell mit ihren Ausdrucksmöglichkeiten befassen. Am Projekt ICH WEISS, WAS DU ´68 GETAN HAST nehmen 15 Mitglieder der methusalems teil und entwickeln gemeinsam mit dem Regisseur Veit Balthasar Arlt – in Anlehnung an ihre eigenen Biographien – Konzeption und Texte für die Inszenierung.

Veit Balthasar Arlt ist Mitbegründer des Berliner Theater- und Performancekollektivs Turbo Pascal. Er entwickelt seit über zehn Jahren als Regisseur und Dramaturg Rechercheprojekte und interdisziplinäre Performances, bis 2017 als Dramaturg am Theater Freiburg.

Vorstellungstermine: 11. und 25.01.2019, jeweils um 20.00 Uhr; 10.02. um 19.00 Uhr; 10. und 17.03, jeweils um 19.00 Uhr und 12. und 20.04. jeweils um 20.00 Uhr

1968 –
„DIE STUDENTENBEWEGUNG“
ODER: DER AUFSTAND GEGEN DIE
NAZIGENERATION

DISKURS

„Wer die Augen nicht im Affekt verschließt, wird zugeben müssen: diese Revolte war für die politische Kultur der Bundesrepublik ein Einschnitt, in den heilsamen Folgen nur übertroffen von der Befreiung vom NS-Regime durch die Alliierten im Jahre 1945.“ So hat der Frankfurter Sozialwissenschaftler Jürgen Habermas rückblickend das beurteilt, was vor 50 Jahren die Bundesrepublik erschüttert hat. Die Organisation, die diese Protestbewegung maßgeblich initiiert und geprägt hat, war der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund. Der Historiker Hannes Heer erzählt die Geschichte des SDS und analysiert dessen politische Vorstellungen, Wirken und Entwicklung und stellt das historische Erbe dieser Freiheitsbewegung zur Debatte. Heer war als Vorsitzender des SDS in Bonn auch Protagonist der Revolte. In seinem Film MEIN `68: EIN VERSPÄTETER BRIEF AN MEINEN VATER (WDR 1988) versucht er 20 Jahre nach dem Ende der Studentenbewegung eine im Leben gescheiterte Auseinandersetzung mit seinem Vater nachzuholen. Dieser, früheres NSDAP-Mitglied, reagierte auf den politischen Protest der Studierenden wie seines eigenen Sohnes mit hasserfülltem Unverständnis und brach alle Brücken zu ihm ab. So entsteht aus der doppelten Perspektive des Protagonisten wie des Wissenschaftlers und von zwei historischen Punkten der Rückschau ein komplexes und aktuelles Bild der Revolte von 1968. Hannes Heer, Jg. 1941, hat nach dem Studium der Geschichte und Literatur in Freiburg und Bonn als Theaterdramaturg, Filmregisseur und Ausstellungsmacher gearbeitet. Er leitete u. a. die Ausstellungen Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 und Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der ‚Juden’ aus der Oper 1933 bis 1945. Heer hat zahlreiche Publikationen zur Geschichte von Antisemitismus, Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegserinnerung verfasst. Er ist Träger der Carl-von-Ossietzky-Medaille und lebt in Hamburg.

In Kooperation mit der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg


GESPRÄCHE ÜBER AKTUELLE
INSZENIERUNGEN –
SCHWERPUNKT 1968

ÜBER DIE PROJEKTE „1968“ VON BY PROXY UND
„ICH WEISS, WAS DU ’68 GETAN HAST“
VON DEN METHUSALEMS (THEATER FREIBURG)


VERANSTALTUNGSREIHE DER KATHOLISCHEN AKADEMIE FREIBURG IN ZUSAMMENARBEIT
MIT DEM STUDIUM GENERALE DER UNIVERSITÄT FREIBURG

50 Jahre nach 1986 fragen Mitglieder der Theatergruppe die methusalems danach, was aus der linken Bewegung in Freiburg geworden ist, aus demokratischer Emanzipation, der Frauenbewegung, der Energiepolitik und den energetischen Feldern im Dreiländereck. Wie ist es um das spirituelle und evolutionäre Potential der Region bestellt? Ein Happening, eine Séance der methusalems, um mit den politischen Untoten jener Zeit in Kontakt zu treten. Bereits im November wird sich die norwegische Gruppe by Proxy des Themas 1968 annehmen und mit den Zuschauern eine Zeitreise 50 Jahre zurück und 50 Jahre nach vorne unternehmen. Bereits im November hat sich die norwegische Gruppe by Proxy des Themas 1968 angenommen und mit den Zuschauern eine Zeitreise 50 Jahre zurück und 50 Jahre nach vorne unternommen.

Veit Balthasar Arlt (Regisseur, Freiburg)
Bodo Blitz (Autor Theater der Zeit, Freiburg)
Anna Gojer (Dramaturgin, Theater Freiburg)
Tamina Theiß (Dramaturgin, Theater Freiburg)
Mitglieder der Theatergruppe die methusalems (Freiburg)

Termin: Donnerstag, 21. März 2019, 20.15 Uhr, in der Aula der Katholischen Akademie Freiburg

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