Einblicke in die Projektarbeit des Jungen Theaters am Beispiel von
SILENT SERVICE, einer Theaterproduktion mit Pflegenden in Ausbildung

von Michael Kaiser,
Künstlerischer Leiter des Jungen Theaters

Ensemble SILENT SERVICE // Foto: Rainer Muranyi
Ensemble SILENT SERVICE // Foto: Rainer Muranyi
Ensemble SILENT SERVICE // Foto: Rainer Muranyi

„Ich wünsche mir ein Stück
über Pflege,
aber es wäre wichtig,
ungemein wichtig,
dass das nicht so ein Klageding wird,
es ist alles so schlecht,
wir verdienen so wenig.
Mal unter uns: Wir verdienen nicht schlecht, nur
für die Art und Anstrengung der Arbeit halt viel zu wenig.

Es wäre ein Stück, das zeigen könnte,
es gibt viele gute Seiten,
und es gibt eigentlich nur wenige schlechte,
aber die sind gravierend.
Wir sind hier 9 auf der Bühne und im Publikum 90.
Kein besonders guter Pflegeschlüssel, aber so ist es.“

(Textauszug aus SILENT SERVICE)

Manchmal passt alles. So, wie bei diesem Projekt.
Im April 2017 berichte ich bei einer Veranstaltung des Fördervereins TheaterFreunde über die Arbeit des Jungen Theaters. Im Winterer-Foyer zeige ich Bilder aus vergangenen Spielzeiten und erzähle insbesondere von unserem Spartenschwerpunkt, partizipative Produktionen mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf die Bühne zu bringen – Theaterstücke, die unmittelbar mit ihnen und ihrer Welt zu tun haben, biografisch-dokumentarische Projekte, die von Themen handeln, die jungen Menschen auf den Nägeln brennen.

Im Anschluss spricht mich Klaus Christmann an. Er ist Pflegepädagoge an der Akademie für Medizinische Berufe Freiburg und fragt, ob wir nicht Interesse daran hätten, mit seinen Schülerinnen und Schülern – Auszubildenden in der Pflege also – zu arbeiten. Zu diesem Zeitpunkt stecken wir mitten in den Proben zum Tanzstück DIE KRONE AN MEINER WAND, in dem 25 Frauen zwischen 17 und 74 Jahren einen Abend zum Tabuthema „Krebs“ auf die Bühne bringen. Ich habe im Zuge dieses Prozesses tatsächlich schon einmal darüber nachgedacht, ob es nicht spannend sein könnte, dieses Themenfeld weiter zu erforschen, hierbei jedoch eine andere Perspektive einzunehmen. Multiperspektivische Betrachtungen in verschiedenen Produktionen fand ich schon immer spannend.

Ein Theaterprojekt über die Pflege? Auf der Stelle ist da dieses Gefühl, dass das eine hervorragende Idee sein könnte. Sofort öffnet sich eine Vielzahl assoziativer Felder, die an dieses Thema andocken: Der Umgang einer Gesellschaft mit ihren Kranken und Bedürftigen und die Wertschätzung derer, die in diesem Berufskosmos tätig sind, erzählt letztlich unheimlich viel darüber, wer wir sind, wie wir ticken und wie wir handeln. Ich bekunde also spontan mein Interesse an einem solchen Vorhaben, und ab diesem Zeitpunkt nehmen die Dinge ihren Lauf. Die Puzzleteile beginnen sich zu fügen.

Einige Wochen später stelle ich das Projekt dem Regisseur Sascha Flocken vor, dessen Arbeit mit nicht-professionellen Ensembles ich sehr schätze und der sofort von unserer Idee begeistert ist. Er selbst war vor Jahren als Rettungssanitäter tätig und hat dadurch einen persönlichen Bezug zum Thema. Sascha schlägt vor, Felix Schiller mit ins Boot zu holen, der als Autor, Lektor und Veranstalter in Berlin lebt und arbeitet. Felix soll die Produktion als Prozessautor begleiten und u. a. das szenische Material, das auf den Proben in Improvisationen erarbeitet wird, bearbeiten, zuspitzen und remixen: In den partizipativen Projekten des Jungen Theaters starten wir in der Regel ohne Stücktext in die Probenarbeit, schließlich soll dieser gemeinsam mit den Beteiligten entstehen.

Im September 2017 konfrontiert der junge Krankenpfleger Alexander Jorde Bundeskanzlerin Angela Merkel in der ARD-Wahlarena mit seinen Fragen zum Thema Krankenpflege – und macht es damit zu einem wichtigen Diskussionspunkt des Wahlkampfes. In den folgenden Monaten liest man den Begriff „Pflegenotstand“ in den Headlines fast aller Zeitungen, in nahezu sämtlichen TV-Talk Shows wird darüber gestritten. 
Im Februar 2018 treffen wir uns mit der Akademie-Leitung und drei Monate später stellen wir das Projekt den Auszubildenden vor. Als Sascha, Felix und ich vor die Interessierten treten, sind wir überrascht, dass sich über 40 Personen hierzu eingefunden haben: Die Auszubildenden haben offensichtlich ein Bedürfnis, über sich und ihren Berufskosmos zu sprechen – sie möchten dies auch öffentlich tun und scheuen dabei nicht den Aufwand, den so ein Theaterprojekt für sie bedeutet. Man muss an dieser Stelle erwähnen, dass die Probenwochenenden on top kommen, sie also weiterhin parallel und in Vollzeit ihre Ausbildung absolvieren.

Im Juli 2018 treffen wir die Gruppe zu den ersten Workshops im Werkraum und führen im Folgenden ausführliche Interviews mit den Mitwirkenden. Für uns Theatermachende ist das zu großen Teilen eine vollkommen neue Welt, in die wir da eintauchen. Wir staunen, welche Erlebnisse diese jungen Menschen uns aus der Praxis zu berichten haben; wir erfahren jedoch bereits nach kurzer Zeit, wie schnell man in einem solchen Vorhaben von der Realität der Beteiligten eingeholt wird, wenn Ensemble-Mitglieder beispielsweise kurzfristig zum Dienst auf Station abgezogen werden. Proben mit der gesamten Gruppe werden bisweilen zum Luxus.

Als Künstler halte ich es für elementar, in Prozessen wie diesen die eigene Komfortzone zu verlassen und (auch) vor Ort zu forschen. Zu manchen Dingen bekommt man schlichtweg keinen Zugang, wenn man im „Mutterschiff“ Theater verweilt, das im Zentrum der Stadt vor Anker liegt. Ich verbringe daher im September 2018 drei Tage auf einer Kinderkrebsstation und begleite die Pflegenden dort bei ihrer Arbeit. Das sind intensive Einblicke, die einen anderen Zugang zum Thema ermöglichen – Erfahrungen, die meine Sicht verändern und mich zweifelsfrei auch erden.

Eine Uhr, wie sie Pflegende an ihrer Arbeitskleidung tragen // Foto: Michael Kaiser

Auf den Proben im Theater arbeiten wir dazu, was in einem Stück über die Pflege auf der Bühne verhandelt werden müsste. Es geht um die Selbst- und Fremdwahrnehmung des Berufsstandes, es wird zu Nähe und Distanz gearbeitet, zum Umgang mit dem Tod – und dazu, wie es ist, sich als Pflegende unsichtbar zu fühlen. Der Titel des Abends – SILENT SERVICE – referiert auf den Umstand, dass die Arbeit, die Pflegekräfte leisten, für Außenstehende häufig nicht sichtbar ist. Ein Auftrag an die Gruppe besteht darin, einen Gegenstand mit ins Theater zu bringen, der für sie stellvertretend für die Pflege als „Silent Service“ steht. Das Bild oben zeigt eine Uhr, die eine Teilnehmerin bei der Arbeit an ihrer Berufsbekleidung trägt: Smiley und Zeitmesser – Begegnung mit den Patienten vs. Zeitdruck.

Szenenbild aus DIE KRONE AN MEINER WAND // Foto: Britt Schilling

„Künstlerische Recherche“ ist überhaupt ein gutes Stichwort, wenn man die Arbeit des Jungen Theaters beschreiben möchte. In vielen Produktionen der Spielzeit 2018/2019 geht es darum, gesellschaftliche Realitäten mit den Mitteln der Kunst zu erforschen. Parallel zu SILENT SERVICE haben beispielsweise die Proben zu GRENZLAND (Premiere: 01. Juni 2019, Werkraum) begonnen: Nachdem in der bereits erwähnten Produktion DIE KRONE AN MEINER WAND Frauen mit und ohne Krebs auf der Bühne standen, erforscht nun eine Gruppe Männer unterschiedlichen Alters, Betroffene und Nicht-Betroffene, gemeinsam mit den Choreografen Monica Gillette und Gary Joplin das Grenzland zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen Bangen und Hoffen, zwischen Alltag und Ausnahmesituation.

Videostill: Experiment für die Produktion DAS LEBEN DES ANDEREN – Theatermann als Lehrkraft (Juli 2018)
Videostill: Übergabe – Lehrer Christian Heigel (links) wird zum Leiter des Jungen Theaters (Oktober 2018)

Ein anderes Beispiel für die Forschung vor Ort ist die Produktion DAS LEBEN DES ANDEREN: Christian Heigel ist Lehrer an einem Gymnasium. Seit seiner Jugend hegt er eine Vorliebe für das Theater. In seiner Berufswahl jedoch geht er auf Nummer sicher, wählt die Beamtenlaufbahn und stellt sich seither die Frage, was wohl gewesen wäre, wenn er sich stattdessen für das Theater entschieden hätte. Ich selbst lande in meinen Zwanzigern durch eine Verkettung von Zufällen am Theater und habe seither täglich mit Lehrerinnen, Lehrern, Schülerinnen und Schülern zu tun. Doch wie weit entfernt vom echten Leben ist man in einem Kunstbetrieb wie einem Theater tatsächlich? Wie sieht der Alltag von jungen Menschen, die heute zur Schule gehen, wirklich aus?

Christian und ich wollten es wissen: Daher wurde ich im Juli zum Lehrer und Christian hat Ende Oktober meinen Job übernommen. Das Ergebnis dieses „Queraussteiger-Projekts“ ist ab 11. Mai 2019 im Werkraum zu sehen.

Auf der Bühne im Großen Haus: die SCHOOL OF LIFE AND DANCE // Foto: Marc Doradzillo
Auf der Bühne beim ZMF: das HEIM UND FLUCHT ORCHESTER + Gäste // Foto: Jörgens.mi / CC-BY-SA-3.0

Zu guter Letzt sei an dieser Stelle YALLA! vorgestellt, eine Produktion mit nicht-professionellen Mitwirkenden, die auf die Erfahrungswelten der Beteiligten referiert: Seit mehreren Jahren sind das HEIM UND FLUCHT ORCHESTER und die SCHOOL OF LIFE AND DANCE am Theater Freiburg zu Hause. Unter der Leitung von Choreograf Graham Smith und Musiker Ro Kuijpers sind über die Jahre Hunderte von jungen Menschen mit verschiedensten Hintergründen zusammengekommen, um durch Musik und Tanz über ihre eigenen Grenzen hinauszuwachsen. Nun gestalten diese beiden lebendigen Gruppen zum ersten Mal gemeinsam einen Abend. Die Performance geht in ein ausgelassenes Fest über, in dem nur der Moment zählt und die Welt groß genug für uns alle ist. Die Premiere von YALLA! gibt es am 07. Juni 2019 auf der Bühne des Großen Hauses.

Auf dem Blog des Jungen Theaters gibt es vertiefende Einblicke zur Arbeit an diesen und weiteren Projekten:

Ein erster Probenbesuch bei SILENT SERVICE:
http://www.theaterlabor.net/rundumblick/

Über das Tanzprojekt DIE KRONE AN MEINER WAND:
http://www.theaterlabor.net/die-krone-an-meiner-wand/

„Plötzlich Lehrer“ – eine Woche Jobtausch für die Produktion DAS LEBEN DES ANDEREN (Teil 1):
http://www.theaterlabor.net/ploetzlich-lehrer/

„Niemand hat mich aufgehalten“ – eine Woche Jobtausch für die Produktion DAS LEBEN DES ANDEREN (Teil 2):
http://www.theaterlabor.net/niemand-hat-mich-aufgehalten/

SILENT SERVICE

Theaterprojekt mit Pflegenden in der Ausbildung

Eine Kooperation mit der Akademie für Medizinische Berufe der Uniklinik Freiburg

Künstlerische Leitung: Sascha Flocken, Michael Kaiser, Felix Schiller // Bühne und Kostüme: Nina Hofmann // Mit: Fabian Ankenbauer, Viola Benecke, Philipp Egger, Hannah Ganter, Nadja Raupp, Marie Sachs, Viktoria Sickmann, Salomé Sousa, Anselm Wurst

Premiere: Sa, 24.11.2018, Werkraum

Weitere Vorstellungen bis Januar 2019


Wegen der großen Nachfrage bieten wir am 14.03., 15.03. und 19.03.2019 um jeweils 19.00 Uhr Zusatzvorstellungen von SILENT SERVICE im Werkraum an.