JEDER SONG EINE BEGEGNUNG – JEDE BEGEGNUNG EIN SONG
ZUM SONGZYKLUS IM WUNDERLAND

von Heiko Voss

INTRO.

Wer kennt es nicht, das berühmte Weiße Kaninchen, das der noch berühmteren Alice den Weg ins noch viel berühmtere Wunderland aufzeigt? Ungewollt natürlich, denn eigentlich hat das Weiße Kaninchen gar keine Zeit. Für Kinder schon gleich gar nicht, auf keinen Fall: Keine Zeit, keine Lust! Doch Alice lässt sich nicht so leicht abschütteln. Und so ergibt es sich an jenem goldenen Nachmittag, dass Alice dem hinwegeilenden Kaninchen in dessen Bau hinabfolgt. Quatsch: Das ist ja gar kein Kaninchenbau, das ist eine Pforte, ein geheimnisvoller Gang in eine wunderbar-merkwürdige Welt, den sie da hinabsteigt. Hinabfällt! Und komischerweise, ohne auch nur den geringsten Kratzer abzubekommen. Hinunter, hinunter. Alice fällt, aber sie stürzt nicht – und landet ein paar Duzend Stockwerke tiefer völlig unversehrt im Saal der verschlossenen Türen.

CRISIS!

Wer bin ich bloß? Hat man mich heimlich von mir fortgebracht? Wurde ich vertauscht? In wen wurde ich verwandelt? Es sind Momente wie dieser, in denen Lewis Carroll seine Szenen bricht und mit seinen großartig-verqueren Gedankenspielen anreichert. Das geht dann ungefähr so: Alice ist verzweifelt, weil sie nicht mehr sie selbst ist. Nicht einmal die auswendig gelernten Gedichte kann sie noch aufsagen. Auf keinen Fall ist sie noch das Mädchen, das sie bis eben gewesen ist. Wenn sie aber nicht sie selbst ist, muss sie jemand anderes sein. Und da das einzige Kind, das kein einziges Gedicht auch nur halbwegs richtig aufsagen kann, Mabel ist… muss sie jetzt wohl Mabel sein. Wie furchtbar!

Sich selbst nicht zu kennen, ist tatsächlich ziemlich furchteinflößend. Und so nehmen Anno Schreier und sein Textdichter Alexander Jansen gerade diese Szene als Sprungbrett für den weiteren Verlauf ihrer Alice-Version: Sie ist der Ausgangspunkt für eine lange Reise zum eigenen Selbst. Was Carroll auf Hunderten von Seiten spielerisch ausbreitet, wird in der musikalischen Version verdichtet. Für Carroll, der für seine erzählerischen Ausschweifungen berühmt geworden ist, steht die Frage nach der Identität am Beginn einer jeden Zeile. Es ist seine Lebensfrage. Das musikalische WUNDERLAND rückt sie ohne Umschweife ins Zentrum, indem sie die Nöte und Ängste sowie die Anforderungen an das Mädchen vorformuliert. Anforderungen, denen es sich nicht gewachsen fühlt. Und so wird aus den dicken Tränen der viel zu großen Alice ein tiefer See, in dem sie alsbald zu ertrinken droht. Aber soweit ist es noch nicht. Noch ist Alice groß. Was sich aber bald wieder ändern wird. Vielleicht sind es ja nicht zuletzt die übermächtigen Fragen, die sie wieder schrumpfen lassen. Bei so viel Verwirrung ist es nur zu verständlich, dass Alice nach Sicherheit sucht. Nach Sicherheit außerhalb und innerhalb ihres Selbst. Welches Bild stimmt: das Bild, das sie sich von sich macht, oder das Bild, das sich andere von ihr machen? Wann ist sie richtig? Für wen ist sie richtig? Und wie fühlt sich ‚richtig‘ überhaupt an?

Die Fragen sind kaum formuliert, da ist Alice auch schon wieder klein. Jetzt muss sie tatsächlich um ihr Leben fürchten. Es sind die eigenen Tränen, die ihr zusetzen und sie in die Extremsituation zwingen. In einem See aus Tränen sucht Alice den Anker. Oder zumindest Leuchttürme, an denen sie sich ausrichten kann. Es sind aber auch die eigenen Tränen, die sie aus dem Saal der verschlossenen Türen hinausschwemmen, sie aus der Enge ihres Gedankengebäudes befreien und in eine geheimnis- und verheißungsvolle Welt hinausspülen. Die Fragen an die Welt der Erwachsenen nimmt sie freilich mit sich. Sie swingen sanft in ihrem Mädchenkopf, als wären sie noch nicht so recht zu fassen, als wären Antworten für den Moment noch nicht zu denken – und doch deutet die Musik schon darauf hin, dass aus einer tränenreichen Frage in absehbarer Zeit eine lustvolle Frage werden könnte: Wer bin ich? Und wer bist Du? Alice beginnt eine kindliche Odyssee, auf der sie auf einige ziemlich kuriose Gestalten treffen wird.

Wunderland //
Irina Jae Eun Park // Foto: Irina Jae Eun Park // Laura Nickel / 2018

AND: GO!

Von Beginn an setzt das Wunderland Alice zu. Sie wird physisch und psychisch unter Druck gesetzt – ein Stresstest, der in Serie geht. Jedoch mit erstaunlichen Veränderungen in ihrem Selbstverständnis. Mit großer Ausdauer wird sie sich nach und nach freischwimmen. Dabei reihen sich die Begegnungen im Wunderland bunt aneinander – und sind vom Komponisten in glitzernde Songs gefasst. Sie funktionieren wie eine Kette zur Selbstwerdung und verhandeln die zentralen Fragen des Erwachsenwerdens. Ganz im Sinne der zweibändigen Erzählung Carrolls ist aus der großen Materialsammlung ausgewählt, was verwundert und erschreckt, was unterhält und was vergnügt. Eine konsistente Handlung braucht es nicht. Die wäre gar kontraproduktiv, verläuft das Ausbilden der Persönlichkeit doch auch nicht in einer vorgegebenen Abfolge. Alice wandert durch ein zugleich wunderbares und wunderliches Land, in dem jede Begegnung zu einem hinreißenden Song verdichtet wird. Jede Begegnung ein Song: leicht und charmant, frech und ohne falsche Ehrerbietung, irritierend und verstörend, dabei hoch poetisch und mit spielerisch-philosophischen Anklängen versehen. Die Reihe ist imposant.

Gleich zu Beginn trifft Alice auf zwei der bedeutendsten Songschreiber der Gegenwart: auf John Lennon und Bob Dylan alias Walross und Zimmermann. Dass Bob Dylans Geburtsname tatsächlich Zimmerman ist, ist dabei nur eine Randnotiz. Vielmehr speist sich die Nummer aus der Einsicht, dass Dylan als Songwriter den Legendenstatus hält. Und das nicht erst, seitdem er als bisher einziger Musiker für seine Lyrics mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Bob Dylan ist der Songwriter schlechthin, der die unterschiedlichsten Situationen des Lebens in lebendige Songs zu fassen weiß – und für die unschuldig-ungeduldige Alice doch unverständlich bleibt. Indem Anno Schreier den Zimmermann einen Dylan-Song parodiert lässt, bekennt er sich auch musikalisch zu den spielerisch-lustvollen Prinzipien Carrolls: das Festgefügte, das Establishment, das Unbestrittene auf die Spitze treiben, bis nur noch schlichter Nonsens übrig bleibt – Gewissheiten sind eben nicht so einfach zu haben.

Genauso geht es weiter: Mit jedem Song präsentiert der Komponist eine neue musikalische Oberfläche, die sich mal in dieser und mal in jener Stilrichtung gibt. Das Unbekannte im vermeintlich Bekannten lockt Alice nach und nach aus der Reserve. Das durch und durch entspannte Raupentier befindet sich nicht nur in fernöstlicher Versenkung, sondern bedient sich im Zusammenspiel mit der Klarinette auch einer musikalisch-meditativen Sprache aus dem Orient. Alice begegnet einem in sich ruhenden Wesen, das – nicht zuletzt aufgrund von bewusstseinserweiternden Rauschmitteln – schlichtweg nicht aus der Balance zu bringen ist. Diese Raupe ist sich selbst am nächsten. Anders Dideldum und Dideldei. Mit ihnen trifft Alice auf zwei Orientierungslose, die sich außerhalb ihres kriegerischen Kosmos nur noch bedingt zurechtfinden und also am liebsten im permanenten Stechschritt durchs Leben rasen. Dass der Komponist das Metrum ihres Schritts durch andauernde Taktwechsel ins Wanken bringt, nehmen die antriebsgestörten Versehrten gar nicht mehr wahr. Mit Herzogin und Köchin wird Alice mit zwei übergriffigen Mutter-Persönlichkeiten konfrontiert, die mehr mit dem aggressiven Skandieren von Gemeinplätzen beschäftigt sind, als mit der Fürsorge für ihr Baby. Anno Schreier setzt mit einer expliziten Zwölftonreihe einen direkten Bezug zu Alban Bergs WOZZECK, in dem Marie, die Mutter, trotz Wiegenlied auch nur sehr eingeschränkt auf die Bedürfnisse ihres Kindes eingeht. Am Ende ist es Alice, die versucht, das Kind unter dem ohrenbetäubenden Lärm des zerspringenden Geschirrs zu beruhigen. Oder versucht sie vielmehr, sich selbst zu beruhigen? Im Anschluss erteilt die bluesig-swingende Grinsekatze eine Lehrstunde in Sachen Sinnlichkeit und lässt ihr großartiges Bekenntnis zur sensitiven Verrücktheit zu einem lasziven Gesang anschwellen, während der Hutmacher und der Märzhase mit hymnischer Inbrunst auf den gemeinsamen Nicht-Geburtstag anstoßen – very british, im Übrigen, mit Assam und Lady Grey. Für den Gast hingegen wird nicht serviert. Stattdessen stellen die beiden ein Rätsel, dessen Lösung sie selbst nicht parat haben. Oder gibt es gar keine Lösung? „Es führt dich meilenweit von dannen und bleibt doch stets an seinem Ort, es hat nicht Flügel auszuspannen und trägt dich durch die Lüfte fort. Es ist die allerschnellste Fähre, die jemals einen Wandrer trug, und durch das größte aller Meere trägt es dich mit Gedankenflug; ihm ist ein Augenblick genug.“

Jede einzelne Begegnung erlaubt Alice Einblick in eine faszinierend-neue Welt mit all ihren Anforderungen, Konfrontationen, Irrtümern, Annehmlichkeiten und Paradoxien. Wo vorher alle Türen verschlossen waren, weitet sich jetzt der Horizont. Jeder Song eine Begegnung – aber auch und vor allem eine Begegnung mit sich selbst. Auf ihrer Odyssee wird Alice sich ihres eigenen Selbst immer bewusster, bis sie dem Hutmacher und dem Märzhasen ohne Schnörkel die Lösung des Rätsels präsentieren kann: „Es ist die Phantasie.“

Wunderland //
Irina Jae Eun Park // Foto: Irina Jae Eun Park // Laura Nickel / 2018

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Das Rätsel ist lösbar! Wo für Carrolls Rätsel weit und breit keine Lösung in Sicht ist, bekommt Alice im musikalischen Wunderland das Schlüsselwort in die Hand gegeben. Urplötzlich steht sie wieder vor dem Schlüsselloch und sieht in den heimlichen Garten, den phantastischen Ort ihrer Sehnsucht. Sie ist dort, wo die Reise begann, die Tränen sind weggesickert, die Türe steht offen. Alices Coming of Age? Eine kreisrunde Angelegenheit: „Ihr Weg war nur ein großer Kreis“, erklärt eine Stimme die offensichtliche Traumlogik und erinnert in ihrer musikalischen Diktion nicht von ungefähr an den großen Wegbereiter und Wegweiser Gurnemanz aus Wagners PARSIFAL. Auch der reine, unwissende Tor Parsifal wird einen großen Kreis zurücklegen, Erfahrungen machen, Erkenntnisse sammeln – um am Ende als Gralskönig bestehen zu können. Wie Alice auf der Suche nach Erkenntnissen durch ihre traumverlorenen Kindheitsjahre schlittert, sucht auch er ein halbes Leben nach dem Exit-Schild. Ihr Saal der verschlossenen Türen steht sinnbildlich für die Lebensperspektive so mancher Jugendlichen, denen der Weg zu den Eingeweihten schlichtweg versperrt ist. Insofern kann Alice als kleine Schwester Parsifals gesehen werden. Die Phantasie ist ihr Gral und Speer zugleich. Ihr Zaubergarten ist das Wunderland, ihr Gralsgebiet der heimliche Garten, wo auch schon die sprechenden Blumen auf sie warten. Doch Alice will mehr. Sie will auf den grünen Hügel, will einen Überblick bekommen, Sinnzusammenhänge erkennen. „Geh rückwärts“, wird ihr geraten. Nicht der logische Weg führt zum Ziel. Nur das Rückwärts-Gehen spannt alles noch einmal zusammen: Die sprechenden Blumen fungieren wie ein Bündel an Erinnerungen an alle Erlebnisse, die sie seit dem Aufeinandertreffen mit dem Weißen Kaninchen gepflückt hat. Die erste Blume ist aus Holz, die zweite aus Sand, die dritte aus Salz, dazu kommen Blumen aus Blut, Rauch und Fell. Sie stehen symbolisch für die Konfrontation mit der Erwachsenenwelt: Begegnungen mit der Ohnmacht, der Unausweichlichkeit und dem Tod, Begegnungen mit Sexismus, Entgrenzung, Zerstörung, mit der Vergangenheit, der Sinnlichkeit und Ratio. Jeder Song eine Begegnung – „… doch die siebte Blume, die junge, lebendige, übermütige wird dich verlassen“, raunen die Blumen Alice noch zu, bevor die Erde zu beben beginnt.

Die Phantasie wird übermächtig: Ein fürchterlicher Drache erhebt sich mit dumpfem Gestöhn und öffnet sein Maul nach der Heranwachsenden. Doch Alice hat gelernt. Mithilfe ihrer Phantasie hat sie es bis in den Garten geschafft, doch sie weiß inzwischen auch, wie sie ihr Einhalt gebieten kann. Sie kann sie kontrollieren. Ausknipsen. So tut sie es zumindest mit dem namenlosen Wesen, das an Carrolls Jabberwocky angelehnt ist: „Dich gibt es gar nicht!“, schreit sie ihm entgegen. Der Drache steht für die enthemmte und gefährliche Phantasie ohne jegliches Korrektiv. Sein Erscheinen gleicht einer Art Psychotrip: einer Begegnung mit dem unkontrollierten Selbst. Das macht Angst. Das ist unheimlich. Die Macht über den eigenen Kopf will zurückgewonnen werden, so gehört sich das in der zivilisierten Welt. Alice kann das jetzt. Der gebieterische Tonfall, mit dem sie die Phantasie in die Schranken weißt, bedeutet aber zugleich den Abschied von der Kindheit.

Wunderland //
Irina Jae Eun Park // Foto: Laura Nickel / 2018

AND: GO! EXIT?

Was folgt auf die Kindheit? Fragt man Carroll, so folgt auf die Kindheit nichts anderes als der unausweichliche Abschied vom Leben, für ihn gleichbedeutend mit einem allzu verfrühten Sterben, weswegen er krampfhaft versucht hat, sich seine eigene Kinderwelt zu erhalten. Dafür war ihm keine Anstrengung zu groß. Nicht zuletzt der Name Lewis Carroll steht gerade dafür: das Ende der Kindheit zu vermeiden. Unter diesem Namen fabuliert er, erfindet seine Geschichten und sucht Zuflucht inmitten von Kinderscharen. Doch da ist noch ein anderer Name, sein bürgerlicher: Charles Lutwidge Dodgson, der für alles steht, was sein Kinderleben bedroht. Als Charles Lutwidge Dodgson unterrichtet er in strenger, schwarzer Kleidung, als Lewis Carroll amüsiert er in Weiß. Die vielleicht größte Gemeinsamkeit beider Männer bestand in dem Vergnügen, Rätsel zu erfinden. Dabei ging es ihnen nie um eindeutige Lösungen. Das Exit-Schild hat Carroll/Dodgson immer gemieden. Doch während der Autor für seine literarische Alice massenhaft Rätsel ohne Lösung erfindet, findet die musikalische Alice den Ausgang und tritt aus dem Blumengarten. Alice ist angekommen. Doch es ist auch etwas kaputt gegangen. Die siebte Blume ist ihr verloren, das Paradies zerstört. Alice hat den entscheidenden Schritt vollzogen und dabei ihre kindliche Unschuld für immer eingebüßt. So ist der letzte Song des Zyklus auch als Abschied zu verstehen: als ein Abschied von der Unbeschwertheit. Allein der zyklische Gedanke erinnert an den Ausgangspunkt. So ähnlich klang das schon einmal. Im Rückwärts-Hören ist der Abschied von Beginn an präsent. Als Unausweichlickeit schwebt er in der Luft – und ist doch mit einem Hoffnungsschimmer versehen. Denn selbst die gezügelte Phantasie besitzt noch immer so viel Kraft, dass sie auch den Entwachsenen manchmal – ganz unverhofft – im Traum – zurückführt – in den heimlichen Garten – mit seinen vielen verwinkelten und verwunschenen Ecken.