THEATER ALS KOLLEKTIVER PROZESS Jernej Lorenci inszeniert mit dem Schauspielensemble des Theater Freiburg das NIBELUNGENLIED
Als wir uns Ende 2017 mit dem slowenischen Regisseur Jernej Lorenci trafen, um zu diskutieren, welchen Stoff er im Herbst 2018 am Theater Freiburg realisieren soll, schlug er uns mit derart großem Enthusiasmus das NIBELUNGENLIED vor, dass wir von seiner Begeisterung angesteckt sehr gerne einwilligten: Schließlich hat Lorenci auch schon andere Epen wie Homers ILIAS oder gar die BIBEL auf die Bühne gebracht als im besten Sinne erzählendes, „episches“ Theater. Für diese Arbeiten wurde er 2017 mit dem Europäischen Theaterpreis ausgezeichnet. Und das NIBELUNGENLIED war und ist ein Herzensprojekt von ihm.
Henry Meyer spricht die ersten Zeilen aus der Aufführung
Dieses vermeintlich urdeutsche Epos wurde um 1200 n. Chr. im Raum Passau, vermutlich am dortigen Bischofssitz, von einem unbekannten Autoren zu Papier gebracht. Wer das war, wissen wir nicht und werden wir wohl auch nie erfahren. Die Autoren des NIBELUNGENLIEDES am Theater Freiburg hingegen sind bekannt: neben Jernej Lorenci und seinem slowenischen Dramaturgen Matic Starina auch die neun Schauspieler dieses Abends Henry Meyer, Holger Kunkel, Janna Horstmann, Laura Angelina Palacios, Lukas Hupfeld, Martin Hohner, Michael Witte, Tim Al-Windawe und Victor Calero.
Denn diese Aufführung ist in einem offenen und kollektiven Probenprozess entstanden, in dem die Schauspieler zu Co-Autoren wurden. Vom Regieteam bekamen sie jeden Abend „Hausaufgaben“: Sie sollten einzelne Kapitel des NIBELUNGENLIEDES, die so genannten „Aventüren“, aus ihrer Sicht bzw. der Sicht einer der Figuren mit ihren eigenen Worten erzählen. Auf diese Weise entstanden im Verlauf der Proben um die 60 Solo-Performances, zwischen 3 und 45 Minuten lang, aus denen Jernej Lorenci und Matic Starina den Theaterabend entwickelten.
Die Schauspielerin Laura Angelina Palacios – die aus der Sicht der isländischen Königin Brünhild erzählt und sich dann auch zeitweise in diese Figur verwandelt – hatte beispielsweise die „Hausaufgabe“, den Zweikampf, bei dem Gunther dank des unter seine Tarnkappe verborgenen Siegfried die als unbezwingbar geltende Brünhild überwindet, auf ihre Wese zu interpretieren. Dies wird im NIBELUNGENLIED wie folgt geschildert:
Die gleiche Episode schildert Laura Angelina Palacios wie folgt:
„Brünhild hebt den Stein hoch und sie wirft ihn mit aller Kraft hunderte von Metern weit, nimmt Anlauf und macht
einen unglaublichen Sprung durch die Luft, als würde sie fliegen und springt weiter als der Stein fliegt. Sie
sieht Gunther, der nun fast heult, sieht, wie er aber plötzlich den Stein hochhebt, wie er ihn durch die Luft
schleudert, sieht, wie er Anlauf nimmt, so schnell, als würden seine Füße in der Luft rennen, seine Beine über
dem Boden schweben, und sie sieht, wie er abhebt und springt, weiter als sie … weiter als sie … noch nie hat
jemand … dieser schwache, bleiche König … nein … Ich nehme meinen Speer, mit aller Wut, die ich in mir habe,
werfe ich meinen Speer auf diesen schwachen, zitternden König zu, in ihn hinein, ich sehe wie er seinen Schild
hochhält, sehe meinen Speer seinen Schild durchbohren, sehe ihn auseinanderbrechen, dahinter einen Blutstrahl
herausspritzen. Ist er tot? Nein, er bleibt stehen, er bleibt stehen!, er wirft den Speer zurück, mein Schild,
es kracht, mit so einer Wucht, ich kann mich nicht halten, ich kann mich nicht … meine Beine, ich spüre meine
Beine nachgeben, brechen, steh auf, steh auf, ich kann nicht … ich falle hin, ich falle… ich falle… meine Leute
… Stille … dieser König … mein König … Wo ist Siegfried …?“
Diese offene Arbeitsweise entspricht ganz dem Credo von Lorenci, der sagt: „Ich mag keine Schauspieler, die darauf warten, dass ich ihnen sage, was sie tun sollen.“ Im Vorfeld eine Inszenierung bis ins Detail zu konzipieren und dann bei den Proben die Schauspieler dazu zu bringen, das zu tun, was er sich ausgedacht hat, interessiert Lorenci nicht. Er setzt auf die Multiperspektivität seiner offenen Arbeitsweise und auf ein Theater von Menschen über Menschen für Menschen. Schon bei den ersten Proben entstand zwischen dem sehr eingespielten Regieteam um Jernej Lorenci und dem Freiburger Ensemble großes Vertrauen – die Basis für eine solche Stückentwicklung.
Und diese Vielstimmigkeit knüpft genau an den Entstehungsprozess des NIBELUNGENLIEDS über viele Jahrhunderte an: Denn bevor sich um 1200 der unbekannte Verfasser an eine Niederschrift machte, war der sehr viel ältere Mythos in ganz Mittel- und Nordeuropa mündlich von Erzählern verbreitet und weitergegeben worden. Entstanden ist das NIBELUNGENLIED wohl im Zuge der Völkerwanderung im 4. bis 6. Jahrhundert n. Chr., wobei einzelne Motive noch sehr viel älter sind. In dem Epos vermischen sich Märchenmotive z. B. von der Tötung des Drachen und alte Sagen mit historischen Fakten: Tatsächlich gab es im 4. und 5. Jahrhundert ein Burgundenreich im heutigen Rheinhessen, in der Gegend von Worms, und dieses wurde auch von einem König Gunther regiert. Man weiß, dass die Burgunden – die sich später im heutigen Frankreich, eben im Burgund, ansiedelten – im Jahre 435 vernichtend geschlagen wurden. Und mit dem Hunnenkönig Etzel ist niemand anderes als Attila gemeint ...
Diese Motive wurden in ganz Mittel- und Nordeuropa zusammengewoben und mündlich weitergetragen. Jeder Erzähler fügte etwas hinzu, ließ dafür Motive, die ihn persönlich nicht so sehr interessierten, weg und schmückte seine Lieblingsgeschichten aus: ganz so, wie es die Schauspieler_innen im Lauf der Proben taten und abends in jeder Aufführung tun.
Rüdiger BeringMit Unterstützung der TheaterFreunde Freiburg