18. August 1572. Ganz Paris ist auf den Beinen. Die Menschenmassen strömen in Richtung des Louvre. Es ist der Morgen der Hochzeit zwischen dem 19-jährigen Heinrich von Navarra – dem späteren König Heinrich IV. – und der gleichaltrigen Schwester von König Karl IX., Margarete von Valois. Die Stimmung im Volk ist nervös und gereizt, denn es steht viel auf dem Spiel bei dieser Hochzeit. Ganz Frankreich verbindet mit diesem Tag und mit dieser Ehe die Hoffnung auf dauerhaften Frieden in dem seit mittlerweile zehn Jahren wütenden Krieg zwischen Protestanten und Katholiken. Seit 1562 hatten drei Religionskriege Frankreich tief gespalten und das Land nach innen und außen schwer geschwächt. Katharina von Medici, Mutter König Karls IX. und heimliche Regentin, braucht, will sie sich und ihre Familie auch weiterhin an der Macht behaupten, dringend einen stabilen Frieden. Egal zu welchem Preis. Ihr Plan ist riskant. Zwei Teenager, ihre katholische Tochter Margarete und der protestantische Heinrich, sollen mit ihrem Bund eine tief zerrüttete Nation nicht nur symbolisch wieder miteinander vereinen.
Ihr Plan ist auch deshalb riskant, weil nicht nur der Papst in Rom, sondern auch viele in ihren eigenen Reihen darin einen Verrat am, wie es heißt, „wahren“ Glauben sehen. Und jenseits aller Religionsrhetorik stellen sich im Louvre viele die Frage, warum um alles in der Welt man der verhassten hugenottischen Minderheit freiwillig Tür und Tor öffnen und ihnen noch mehr Macht und Einfluss bei Hofe zugestehen soll?
Doch Katharina findet Mittel und Wege ihren Willen in die Tat umzusetzen. Die Hochzeit findet statt. Und tatsächlich feiern die Anführer der Hugenotten gemeinsam mit den Katholiken über vier Tage, als hätte es die drei Kriege zuvor nie gegeben. Die Spannungen zwischen den verfeindeten Religionsparteien sind zwar während der gesamten Festivitäten in ganz Paris zu spüren, doch kommt es zu keinen nennenswerten Auseinandersetzungen. Der Plan Katharinas scheint aufzugehen.
Am 22. August ändert sich die Situation jedoch mit einem Schlag. Das gescheiterte Attentat auf den protestantischen Heerführer Admiral de Coligny, der, so das kolportierte Gerücht, einen Staatsstreich plante, lässt die Stimmung gefährlich explosiv werden. Die genauen Hintergründe dieses Anschlags – ob politisch, religiös oder privat motiviert – sind bis heute ungeklärt. Im Louvre fürchtet man einen Vergeltungsschlag der Hugenotten, zumal ein Heer von 4000 Soldaten unweit von Paris lagert. Gerüchte von einem drohenden Angriff auf Paris oder einem Volksaufstand machen die Runde. Die Stadttore werden geschlossen und überall in der Stadt werden Waffen verteilt. Die Situation bekommt eine Eigendynamik, die auch vor dem Louvre nicht Halt macht, und so glaubt man, dem drohenden Racheakt der Hugenotten zuvorkommen zu müssen.
Am 24. August 1572 um ein Uhr dreißig, in der Nacht des heiligen Bartholomäus, rufen die Sturmglocken der Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois zum großen Schlachten. Doch es ist nicht die Garde des Königs, die hier metzelt und mordet, es ist der von radikalen Priestern aufgestachelte und von religiösen Fanatikern angetriebene Mob, der einen tagelangen Blutrausch in der Stadt veranstaltet. Allein die bloße Behauptung, mit einem Protestanten zu verkehren genügt, um Menschen jeden Geschlechts und Alters, vom Kind im Mutterleib bis zum achtzigjährigen Greis zu ermorden. Die Schätzungen über die Zahl der Opfer schwanken. Allein in Paris waren es wohl drei- oder viertausend. Etwa zwanzigtausend weitere Menschen sterben in den Provinzstädten Orléans und Lyon. Das Gemetzel dauert noch sechs weitere Tage, ehe sich der Mob beruhigt und sich langsam wieder so etwas wie Ordnung in Paris einstellt.
Katharinas Plan der Befriedung des Landes war also bereits eine Woche nach der prunkvollen Hochzeit gescheitert. Fast überflüssig zu erwähnen, dass diese Nacht den Auftakt zum vierten, dem bislang blutigsten Religionskrieg markierte. In den kommenden Jahren sollten noch vier weitere folgen, ehe nach dem achten schließlich Heinrich von Navarra 1594 siegreich in Paris einzog. Und es klingt heute wie bitterer Hohn, dass er noch vor seiner Krönung als König Heinrich IV. zum Katholizismus konvertierte.
Bis zu seiner Ermordung 1610 gelang es ihm jedoch, eine Ära des Friedens zu begründen. In den französischen Geschichtsbüchern spricht man vom „goldenen Zeitalter“ Frankreichs – mit einer Dauer von gerade einmal eineinhalb Jahrzehnten. Es war keine Ära, lediglich ein kurzes Durchatmen. Mehr nicht.
Der Lessing-Preisträger Klaus Harpprecht schrieb zu diesen Ereignissen treffend: „Das Pathos der Prediger – gleichviel ob es auf protestantischen oder katholischen Kanzeln erschallte – und der fistelnde Eifer der religiösen Fanatiker tarnten Beutegier und schiere Mordlust mit dem Anspruch der Legitimität, die aus dem Glauben stammt. Wer heutzutage naiv genug ist, den fromm drapierten Terror der Islamisten für eine beispiellose Verirrung zu halten, der lese in der Geschichte der europäischen Religionskriege nach, zu welch viehischen Schlächtereien, zu welch absurden Gräueln, zu welcher Verwüstungs- und Vernichtungswut die katholischen wie die protestantischen Heerscharen im Namen Gottes fähig waren! Uns heute erscheint das 20. Jahrhundert, angesichts der Auslöschung von Millionen und Abermillionen Menschenleben unter dem Diktat primitiver oder intellektuell dürftig aufgeputzter Ideologien, als das finsterste in der Geschichte des Abendlandes. Doch das Zeitalter der Religionskriege steht ihm nicht viel nach.“
Die Ereignisse der Bartholomäusnacht, das Schicksal Heinrichs und vor allem Margaretes, die Rolle Katharinas von Medici, sie alle haben Künstler und Historiker gleichermaßen zu immer neuen Theorien und Auseinandersetzungen animiert: Alexandre Dumas hat mit seinem Abenteuerroman DIE BARTHOLOMÄUSNACHT – LA REINE MARGOT die Begebenheiten dieser Nacht in eine turbulente Mantel-und-Degen-Geschichte verwandelt; Heinrich Mann lässt in seinem Historienroman DIE JUGEND DES KÖNIGS HENRI QUATTRE dagegen tief in das politische Ränkespiel blicken, dem Kampf um Macht und Einfluss, der dieser Nacht vorausging. Und Patrice Chéreau hat in seiner hochgelobten, gleichnamigen Verfilmung aus dem Jahr 1994 den Stoff in Teilen aktualisiert und Parallelen zum damaligen Jugoslawienkrieg gezogen.
Nach ihrem von Publikum und Kritik gleichermaßen gefeierten SOMMERNACHTSTRAUM in der vergangenen Spielzeit, wird sich die polnische Regisseurin Ewelina Marciniak in ihrer zweiten Arbeit für das Theater Freiburg nicht allein auf die Ereignisse jener Nacht konzentrieren, sondern sie hinterfragt die bei Dumas ausgesparten Hintergründe und vor allem die Vorgeschichte, die zu diesem Massaker führten. Wie ausgehend von innerfamiliären Streitigkeiten und Rivalitäten, gepaart mit Machtgier, Neid und Eifersucht, Intrigen angezettelt wurden, die am Ende Zehntausenden Unschuldigen das Leben kosteten. Und was passiert, wenn Religion und die Unterschiedlichkeit von Religionen nur als Vorwand benutzt werden, um den eigenen Machtanspruch zu legitimieren und diesen mit Gewalt und „im Namen Gottes“ durchzusetzen.
Nach einer Ära der Säkularisation und des Laizismus vermischen sich gegenwärtig in ganz Europa wieder politische mit religiösen Fragen zu einer hochgefährlichen Gemengelage. Im Zentrum steht dabei die Abgrenzung nach außen. Es geht darum, die Werte, die eigene Kultur und Identität, die Traditionen vor der Einflussnahme und Vereinnahmung des Fremden und Anderen, vor allem der anderen Religion und konkret des Islams zu schützen und, soweit geht die Rhetorik mittlerweile, im Falle eines Falles auch zu verteidigen. Wer diese Argumentation genauer betrachtet, stellt fest, dass sie sich kaum von jener im Frankreich und Europa des 16. Jahrhunderts unterscheidet. Wohin diese führen kann und welche Verbrechen Menschen darüber meinen legitimieren zu können, davon legen die Berichte jener Nacht ein eindringliches Zeugnis ab. Diese Parallelen zur Gegenwart aufzuzeigen, ist eines der wichtigen Anliegen Ewelina Marciniaks bei ihrer Adaption der BARTHOLOMÄUSNACHT.
Michael BillenkampDIE BARTHOLOMÄUSNACHT (UA)
nach Motiven von Alexandre Dumas
Regie: Ewelina Marciniak, Bühne: Anna Królikiewicz, Kostüme: Konrad Parol, Musik: Janek Duszyński,
Choreografie: Izabela Chlewinska, Dramaturgie: Michael Billenkamp, Jan Czapliński
Mit: Tim Al-Windawe, Thieß Brammer, Angela Falkenhan, Martin Hohner, Janna Horstmann, Lukas Hupfeld, Henry Meyer, Stefanie Mrachacz, Anja Schweitzer, Hartmut Stanke, Rosa Thormeyer
Premiere: 25.01.2019 // Großes Haus